Antrag der Abgeordneten Annalena Baerbock, Oliver Krischer, Dr. Julia Verlinden, Jürgen Trittin, Bärbel Höhn, Omid Nouripour, Sylvia Kotting-Uhl, Christian Kühn (Tübingen), Steffi Lemke, Peter Meiwald, Harald Ebner, Matthias Gastel, Stephan Kühn (Dresden), Nicole Maisch, Friedrich Ostendorff, Markus Tressel, Dr. Valerie Wilms und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Gasversorgung konsequent europäisch denken, statt mit Projekten wie Nord Stream 2 fossile Abhängigkeiten manifestieren (→ pdf)
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
Im Jahr 2015 hat der russische Energieversorger Gazprom – der mehrheitlich in staatlicher Hand ist – gemeinsam mit E.on, OMV, Shell, Engie und BASF/Wintershall den Ausbau der Nord-Stream-Pipeline vereinbart, mit der zusätzliches Gas aus Russland nach Deutschland geliefert werden soll. Konkret soll die Kapazität der bestehenden Pipeline bis 2019 verdoppelt werden, wenngleich die ersten beiden Stränge bisher nur zu 70 Prozent ausgelastet sind. Dazu wurde die New European Pipeline AG gegründet, welche ihren Sitz in der Schweiz hat und an der Gazprom 50 Prozent der Anteile besitzt. Ungeachtet der Beschlüsse der EU-Mitgliedstaaten zur Europäischen Energieunion, die eine Diversifizierung europäischer Rohstoffbezugsquellen vorsehen, unterstützt die deutsche Bundesregierung dieses Projekt. So traf Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel im Oktober 2015 den russischen Präsidenten Wladimir Putin und den Gazprom-Konzernchef Alexei Miller zu bilateralen Gesprächen über die künftige Versorgungsstrategie der Bundesrepublik Deutschland mit russischem Gas.
Investitionen in langfristige fossile Infrastrukturen wie Nord Stream 2 widersprechen jedoch den deutschen und europäischen Dekarbonisierungsverpflichtungen gemäß dem Pariser Abkommen, da sie Gefahr laufen, fossile Abhängigkeit zu zementieren und einen fossilen „Lock-in“ erzeugen können. Vor diesem Hintergrund ist es kontraproduktiv, jetzt – 35 Jahre vor dem Dekarbonisierungsziel für das Jahr 2050 – in fossile Großprojekte zu investieren, deren Abschreibungszeiten weit über das Jahr 2050 hinausgehen. Ziel muss es vielmehr sein, eine Infrastruktur zu schaffen, die den Klimazielen nicht im Wege steht und welche die bestehende und künftig sinkende Erdgasnachfrage berücksichtigt. Voraussetzung dafür ist eine verlässliche Prognose der Gasnachfrage, die sich an ambitionierten Zielen für den Ausbau der erneuerbaren Energien und Energieeffizienz orientiert. So bringt ein Prozent Steigerung der Energieeffizienz 2,6 Prozent weniger Gasnachfrage.
Mehr Energieunabhängigkeit gibt es nur, wenn wir wegkommen von fossilen Energien. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts hat schon vor fast 2 Jahren nachgewiesen, dass durch Fortschritte bei der Gebäudedämmung Deutschland bis 2030 so viel Gas einsparen könnte, wie es heute aus Russland importiert. Hierzu wäre eine Sanierungsrate von 3 Prozent p. a. vonnöten. Trotz dieser Erkenntnisse hat die Bundesregierung bis heute kein schlüssiges Gesamtkonzept zum Erreichen ihrer Ziele bei der energetischen Gebäudesanierung vorgelegt.
Auch eine einfache Umorientierung auf neue LNG-Terminals, LNG-Lieferungen aus Staaten wie Katar oder Algerien oder mit der Frackingtechnologie gewonnenes Gas aus den USA oder Australien würde die globalen Klimaziele ebenso ad absurdum führen. Mehr Energieunabhängigkeit wäre auch durch den geplanten südlichen Gaskorridor nicht gegeben, da neue Abhängigkeiten zum autoritären Regime in Aserbaidschan entstünden. Solange die von der Europäischen Union angestrebte Energieunion im Kern eine Gasunion bleibt, sind die Klimaziele nicht erreichbar.
Nord Stream 2 stellt zudem das bisherige Agieren der Europäischen Union und der Bundesregierung mit Blick auf die politische und ökonomische Stärkung der Ukraine in Frage. Die Pipeline-Erweiterung kann Einfluss auf den bestehenden Gastransit durch die Ukraine haben. Die Durchleitungsgebühren von aktuell 1,8 Milliarden Euro pro Jahr werden nur weiter für den ukrainischen Haushalt zur Verfügung stehen, wenn die durch Nord Stream 2 erweiterten Kapazitäten wirklich zusätzliche Gasmengen nach Europa bringen. Anderenfalls würden die Bemühungen des staatlichen Gasversorgers Naftogaz und der – mehrheitlich – in staatlicher Hand befindlichen Betreibergesellschaften erschwert, das ukrainische Gasnetz zu modernisieren. Die Ukraine muss auch in Zukunft Teil des europäischen Gasversorgungssystems bleiben. Europa sollte verstärkt darauf setzen, auch ukrainische Gasspeicherkapazitäten zu nutzen. Eine Einsparstrategie, die die europäischen Klimaschutzziele ernst nimmt, werden neue Pipelines wie Nord Stream 2 und mittelfristig auch die Gastransporte durch die Ukraine obsolet machen. Die politischen Entscheidungsträger wären also gut beraten, wenn sie nicht neue Pipelines bauen bzw. allein auf Modernisierung des Gasnetzes, sondern vor allem auf erneuerbare Energien und dezentrale Energieversorgungsstrategien setzen.
Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass Nord Stream 2 den europäischen Wettbewerb im Gasbereich einseitig verschärft, da die Gefahr wächst, dass Gazprom monopolistische Märkte schafft und sich die Abhängigkeit vom russischen Versorger erhöht, der zunehmend die gesamte Gasversorgungskette kontrolliert.
Bisher unbekannt sind die Kosten für die Anschluss- und Verteilinfrastruktur der bestehenden Pipelines OPAL und NEL, welche das russische Gas auf dem deutschen Festland verteilen. Hier steht die Gefahr im Raum, dass die Gaskunden und ggf. die öffentliche Hand für die Kosten aufkommen müssen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
- den Beschlüssen der Europäischen Union zur Schaffung einer Energieunion im Grundsatz zu folgen und Nord Stream 2 ähnlich wie andere Großinvestitionen in langfristige fossile Energieinfrastrukturen als schlecht vereinbar mit europäischem Energierecht und der Diversifizierung von Energiequellen und der europäischen Energiewende zu erklären;
- sicherzustellen, dass aus der privatwirtschaftlichen Realisierung von rein fossilen Infrastrukturmaßnahmen keine notwendigen Anschlussaufgaben entstehen, die durch die öffentliche Hand zu finanzieren sind;
- die EU-Energieeffizienzpolitik mit dem verbindlichen Ziel einer Senkung des Energieverbrauchs um mindestens 40 Prozent bis 2030 zu untermauern und dabei verbindliche nationale Ziele für die einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen;
- sich im Rahmen der Ziele der Energiewende mit Nachdruck für den europaweiten Ausbau von erneuerbaren Energien und Energieeffizienzmaßnahmen einzusetzen, statt den Ausbau der Nord-Stream-Pipeline oder weiterer Pipelineprojekte wie dem südlichen Gas-Korridor zu forcieren;
- eine wirksame Trennung des Netzbetriebs von der Gewinnung und Versorgung von Gas zu gewährleisten, wie es die Richtlinie zum Erdgasbinnenmarkt (2009/73/EG) vorschreibt; verlässlicher Partner zur Verbesserung der europäischen Gasversorgung zu werden und die Entwicklung von Interkonnektoren und liquiden Hubs und einer Verbesserung der bestehenden Infrastruktur zu ermöglichen;
- Finanzinstrumente, Garantiefonds und technische Hilfe einzusetzen, um die Investitionen in die Energieeffizienz durch eine in erster Linie auf mittel- und südosteuropäische Länder abzielende De-Risking-Strategie anzukurbeln, wie in der Erklärung von Luxemburg vorgeschlagen;
- eine ehrgeizige Strategie für energieeffiziente Heizung und Kühlung zu verfolgen, um den Austausch ineffizienter Heizungssysteme zu unterstützen und den Brennstoffwechsel von Erdgas zu regenerativen Energiequellen (Solarthermie, Geothermie, nachhaltige Biomasse) zu fördern;
- sich auf EU-Ebene für ambitionierte Instrumente zur Erhöhung der Energieeffizienz einzusetzen; etwa im Rahmen der europäischen Top-Runner-Strategie die EU-Ökodesign-Richtlinie dahingehend weiterzuentwickeln, dass Innovationen stärker gefördert werden und ineffiziente energieverbrauchsrelevante Produkte noch schneller vom Markt genommen werden, während hocheffiziente Produkte zum Standard werden.
Berlin, den 10. Mai 2016
Katrin Göring-Eckardt, Dr. Anton Hofreiter und Fraktion
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