ein Gastbeitrag von Annalena Baerbock und Manuel Sarrazin
veröffentlicht auf cicero.de
Geschichte ist das Fundament der Zukunft. Die Lehren aus der eigenen Geschichte und die Wahrung der vergangenen Errungenschaften bilden daher die Koordinaten für politisches Handeln. Die Europäische Union steht stellvertretend dafür. Doch selbst historisch gewachsene Koordinaten verschieben sich zurzeit immer öfter ganz ohne große politische Strategie. Es passiert schleichend aufgrund politischer Unachtsamkeit oder gefühlter Getriebenheit. In welch gefährliche Gewässer einen das bringt, merkt man erst, wenn es fast zu spät ist. Aktuellstes Beispiel: Der Brexit. Das britische Referendum über den Austritt aus der Europäischen Union war kein lang ausgeklügelter strategischer Plan. Ja, Großbritannien und die EU, das war seit Beginn eine heftige On-off-Beziehung. Ja, die Stimmung in Großbritannien verschärfte sich mit dem Aufstieg der rechtspopulistischen UKIP. Aber die Entscheidung zum Referendum war kein heftiges Ringen und Werben um den richtigen Weg, wie man mit der europafeindlichen Stimmung umgeht. Die drohende Dekonstruktion der europäischen Integration ist quasi einfach „passiert“, wie die Zeitung DER STANDARD treffend beschreibt. Irgendwie passiert, weil der damals frisch gewählte britische Premier David Cameron aufgrund des Rumorens in seiner eigenen Partei, und um sich selbst innerparteilich Luft zu verschaffen, leichtfertig die europäische Historie ignorierte, die selbst unter der „Eisernen Lady“ Margaret Thatcher die politischen Koordinaten für britische Forderungen in der EU bildete.
Wenn dieser Tage über den Ausgang des Brexits diskutiert wird, sollte daher sein Ursprung nicht unter den Tisch fallen. Vor allem nicht für politisch Verantwortliche. Denn, wenngleich die Dimension eine andere ist, musste man im Bundestag in der vergangenen Sitzungswoche zusammenzucken, wie plötzlich es passieren konnte, dass zwei nicht unbedeutende historische Wegmarken vom Tisch gefegt wurden: Erst landete aufgrund von Missstimmungen zwischen den Regierungsfraktionen und fernab der großen öffentlichen Wahrnehmungsschwelle der Bericht der Expertenkommission über die Zukunft der Behörde für Stasi-Unterlagen im Schredder. Dann flog ein interfraktioneller Antrag zum 25. Jubiläum der deutsch-polnischen Freundschaft von der Tagesordnung, weil es bei der Union rumorte.
Beides Themen, die auf den ersten Blick vielleicht nicht sehr relevant erscheinen – aber eben nur auf den ersten. Denn es geht hierbei ebenso um historische Errungenschaften, die, ähnlich der europäischen Einigung, das Fundament unserer demokratischen Kultur bilden: um die Kraft der Aussöhnung früherer Feinde, um das Erbe der Solidarność-Bewegung, der friedlichen Revolution samt ihrer Montagsdemonstrationen und die Aufarbeitung der SED-Diktatur.
Weil die Würdigung unserer demokratischen Geschichte und die Auseinandersetzung mit geschehenem Unrecht auch die Verfasstheit unserer Gesellschaft beschreibt und weil politische Unachtsamkeit Gift für die politische Kultur sind, wollen wir hier beide Anträge noch einmal beleuchten: Zum Jahrestag des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags wurde ein interfraktioneller Antrag vorbereitet. Abgesehen von der unionseigenen Linksphobie, die eine Zusammenarbeit mit der Oppositionsfraktion kategorisch ausschließt, verhandelte man lange Zeit konstruktiv. Denn allen ist klar, dass angesichts der neuen nationalkonservativen Regierung in Polen, aber auch aufgrund der europakritischeren Stimmung in Deutschland, eine Würdigung der gemeinsamen 25-jährigen Freundschaft ohne eisernen Vorhang mehr ist als Symbolpolitik. Mit dem Willen zum Konsens haben alle Fraktionen Kröten geschluckt, um einen würdigen Antrag zu formulieren. So ist es bei interfraktionellen Anträgen demokratische Gepflogenheit.
Finaler Knackpunkt für einen interfraktionellen Antrag blieb die Einordnung der Charta der Heimatvertriebenen. CDU/CSU sehen die Charta, nicht völlig zu Unrecht, als Element der Versöhnung zwischen Deutschland und Polen an. Allerdings muss diese historisch kontextualisiert werden. Der ausgewiesene Verzicht auf Rache und Vergeltung in der Charta war 1950 sicherlich versöhnlich formuliert, suggeriert aber eine Position der Unschuld, aus der heraus eine Gnade des Racheverzichts gewährt wurde. Diese Unschuld gab es nicht. Zudem stilisiert die Charta Heimatvertriebene als die „vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen“, was angesichts der menschenverachtenden deutschen Verbrechen gegen die Polen noch immer relativierend nachhallt. Auf der Zielgeraden der Verhandlungen baten wir Grünen um Kontextualisierung der entsprechenden Passage im Antrag, die SPD unterstützte unser Anliegen und ließ uns nochmals mit der Union verhandeln. Gerade weil sich politische Fehlentwicklungen aus Unachtsamkeit heraus entwickeln können, warnten wir vor der pauschalen Huldigung der Charta, denn noch heute wird sie in Teilen der polnischen Gesellschaft alles andere als versöhnend interpretiert.
Die Unionsfraktion verweigerte jedoch jeglichen Kompromiss zur historischen Einordnung der Charta und so passierte es dann, dass der Deutsche Bundestag die rechtzeitige und überparteiliche Würdigung der deutsch-polnischen Aussöhnung und Freundschaft am 17. Juni verpasste. Einer Freundschaft, die solide ist, wenngleich – wie in jeder guten Freundschaft – nicht frei von Meinungsverschiedenheiten. Der Freundschaftsvertrag steht für Dialogbereitschaft, für Vertrauen und Kooperation. Er steht für Sicherheit, Frieden und Respekt. Werte, die Europa ausmachen und die nicht genug gewürdigt werden können. In Zeiten eines drohenden Brexits nahmen sich die Abgeordneten die Möglichkeit, diese Erfolgsgeschichten der europäischen Einigung zu feiern und Verbundenheit zu demonstrieren, selbst wenn der Bundestag dieses Thema nun noch behandelt. Union und SPD ohne die historische Einordnung der Charta, wir Grüne nun mit eigenem Antrag.
Ähnlich unachtsam handelten die Koalitionsfraktionen hinsichtlich der Zukunft der Stasi-Unterlagenbehörde. Die Behörde ist von außergewöhnlichem Wert für unsere Demokratie und unsere politische Kultur, arbeitet sie doch systematisch das verübte Unrecht durch die SED-Diktatur und ihres Geheimdienstes auf. Sie zeigt, wie individuelle Freiheiten unterdrückt und Menschenrechte missachtet wurden. Der Umgang mit den deutschen Verbrechen der Vergangenheit und ihren Opfern ist prägend für unsere liberale Demokratie. Zwar gibt es kein offizielles Enddatum für die Behörde, aber unlängst sollte sie von einer Sonderbehörde des Mauerfalls in die bestehenden Bundesbehörden integriert werden. Nicht um einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung zu ziehen, sondern um das Stasi-Material langfristig vor dem Verfall zu sichern und die Aufarbeitung durch Zivilgesellschaft und Wissenschaft zu garantieren. Eine Expertenkommission hatte hierzu zentrale, wenngleich nicht ganz unumstrittene Vorschläge gemacht. Doch statt diese Vorschläge nun im Gesetzgebungsprozess zu diskutieren, die nötigen finanziellen Mittel zu beraten, um die Akten zu erhalten und die Unrechtsaufarbeitung zukunftsfest zu machen, wurde die Entscheidung holterdiepolter auf den Sankt-Nimmerleins-Tag der kommenden Legislatur vertagt. Dies ist nicht nur eine Ohrfeige für die Expertenkommission und ihre Arbeit, sondern verunsichert auch die Opfer des DDR-Unrechts und all jene, die sich aus der Geschichte heraus für eine liberale Demokratie einsetzen.
Den Koalitionsfraktionen ist es damit in nur einer Woche gleich zweimal irgendwie passiert, bei zentralen historischen Grundsteinen unserer Demokratie scheinbar den Willen zur Zusammenarbeit zu verlieren. Nicht aus politischem Kalkül, sondern aus Unachtsamkeit gegenüber historischen Errungenschaften und der Argumente anderer. Beide Themen hatten einen langen Vorlauf, keines eignet sich zur parteipolitischen Profilierung. Letztlich scheiterten sie an fehlender Sensibilität gegenüber den Lehren aus der eigenen Geschichte. Das ist fatal, denn dem grassierenden Populismus, gesellschaftlicher Polarisierung und zunehmender nationaler Abgrenzung sollten eben jene historischen Leistungen entgegengestellt werden, auf die unsere freiheitlichen Gesellschaften fußen. Nicht aufgrund von Geschichtsnostalgie, sondern um populistischer Verklärung entgegenzutreten.
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