Der erfolgreichen Montanunion sollte eine Energieunion folgen, meint Annalena Baerbock.
Lange schon wird es herbeigesehnt – das neue große Projekt Europas. Wie damals die Montanunion. Eine Vision, die inspiriert und mitreißt, auch wenn sie zunächst groß und technisch erscheint. Der erfolgreichen Vision von 1951, durch gemeinsame Stahl- und Kohleproduktion Frieden und Zusammenarbeit zu schaffen, folgte der gemeinsame Binnenmarkt samt seiner Freizügigkeiten, eine gemeinsame Währung und das Europa ohne Grenzbäume. Doch nach der Osterweiterung steht schon lange die Frage im Raum: Was nun?
Die gute Nachricht: Es gäbe ein Projekt. Die Klimakrise ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Zugleich wurde in der Euro-Krise deutlich, dass vor allem die teuren Energieimporte die Verschuldung der europäischen Mitgliedstaaten in die Höhe treiben. 545 Milliarden Euro zahlten die europäischen Mitgliedstaaten 2012 für Energieimporte. Die Ukraine-Krise unterstreicht, dass eine Überwindung der fossilen Abhängigkeit nicht nur hilfreich wäre, um die hohen Verschuldungsstände der Länder zu senken, sondern auch, um die politische Abhängigkeit der EU von Energielieferanten zu reduzieren.
Statt solchen Krisen – wie unsere Gründungsväter – mit einer Vision zu begegnen, wagen sich die Staatschefs heute jedoch nur in Trippelschritten voran: sowenig Europa wie nötig, soviel fossile Energie wie möglich. Dabei ist klar, dass Energieeffizienz und der gemeinsame Ausbau von erneuerbaren Energien in Europa Millionen neuer Jobs in Europa schaffen könnten.
Die jüngsten Vorstöße nach einer Energieunion und die Vollendung des Energiebinnenmarkts müssen entlang der größten Herausforderung unserer Zeit – des Klimawandels – gedacht werden. Der Montanunion muss die Klimaunion folgen.
Dabei müssen die Bereiche Energieeffizienz, erneuerbare Energien und vor allem der europäische Ausbau intelligenter Netze eine zentrale Rolle spielen. Wer einen europäischen Energiebinnenmarkt schaffen will, muss für moderne Transportwege sorgen. Ohne die vielen Wege auf der Schiene, in der Luft, zu Wasser oder auf Asphalt würde der europäische Binnenmarkt nicht funktionieren. Die Ware Strom können wir daher auch nicht länger auf durchlöcherten Schotterpisten transportieren wollen, sondern brauchen moderne und intelligente Netze, um Europas Vielfalt an erneuerbaren Energien zu nutzen.
Die dafür notwendigen Investitionen stehen ohnehin an. Allein in der europäischen Nordsee-Region ist in den kommenden 15 Jahren ein Investitionsvolumen von über 100 Milliarden Euro für die Übertragungsnetzinfrastruktur fällig. Zugleich liegen in dieser Region enorme Kapazitäten erneuerbarer Energien. Solche Investitionen dürfen weder fragmentiert noch national behandelt werden, sondern müssen zusammen gedacht und gemeinsam geplant werden.
Versäumen wir die gemeinsame europäische Planung und den grenzüberschreitenden Netzausbau, verzögern wir nicht nur die Energiewende, sondern riskieren nationale Kostensteigerungen in Milliardenhöhe. Fehlende Netzverbindungen und getrennte Planung sind die Grenzbäume unserer Zeit. Diese muss eine Klimaunion überwinden.
Dieser Gastbeitrag erschien am 17.11.2014 auf S. 13 des Handelsblatts
Bild: Craig Mayhew /Robert Simmon, NASA GSFC, CC0
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