Kleine Anfrage der Abgeordneten Oliver Krischer, Annalena Baerbock, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Die kleine Anfrage im pdf-Format
Vorbemerkung der Fragesteller:
Braunkohle gehört zur klimaschädlichsten Energieerzeugungsform und wird – um die selbst gesteckten Klimaschutzziele zu erreichen – in den kommenden Jahrzehnten aus dem Energiemix verschwinden müssen. Dennoch gibt es Stimmen, die eine stoffliche Nutzung der Braunkohle fordern. Auch die Bundesregierung fördert über das Projekt „Fabiene“ im Rahmen von CO2-ReduktionsTechnologien (COORETEC) im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit 10 Mio. Euro die stoffliche Nutzung der Braunkohle beim Kohlekonzern RWE AG in Niederaußem. Die Initiative des BMWi ist Teil des 6. Energieforschungsprogramms „Forschung für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung“. Doch diese Förderung von Forschung und Entwicklung der klimaschädlichen Braunkohle ist nach Auffassung der Fragesteller kein Beitrag zum von der Bundesregierung selbst gesteckten Ziel der CO2-Reduktion und verhindert Forschung im Bereich zukunftsfähiger Technologien, wie beispielsweise zu erneuerbaren Energien und Energieeffizienz.
1. Welche konkrete Perspektive sieht die Bundesregierung in einer sog. stofflichen Nutzung der Braunkohle im Vergleich zur Nutzung anderer Kohlenwasserstoffe (Erdöl, Erdgas), die eine Forschungsförderung in Höhe von 10 Mio. Euro durch das BMWi rechtfertigen (siehe www.rwe.com/web/ cms/mediablob/de/3012272/data/2884472/1/rwe-power-ag/energietraeger/ braunkohle/links/0415-Forschungsfoerderung-fuer-Synthese-Teststand-15Apr. pdf), und hält die Bundesregierung auch nach dem absehbaren Ende der energetischen Nutzung der Braunkohle den aufwändigen Weiterbetrieb von z. T. mehreren hundert Meter tiefen Tagebauen als Zugang zur Lagerstätte für die stoffliche Nutzung der Braunkohle für sinnvoll (bitte begründen)?
Die stoffliche Nutzung der Braunkohle als Anwendungsgebiet der Kohlechemie ist kein prioritärer Förderschwerpunkt der Bundesregierung.
Forschungsgegenstand im BMWi-Förderprojekt „Fabiene“ ist die Polygeneration. Das Forschungsziel ist ein Anlagenkonzept. Eine kombinierte energetischstoffliche Nutzung (Polygeneration) könnte dazu beitragen, energiewirtschaftlich notwendige Kapazitäten bedarfsgerecht bereitzustellen und bietet interessante strategische Möglichkeiten für das notwendige Lastmanagement beim weiteren Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energien im Zuge der Energiewende. Zudem können auch Biomassen als Einsatzstoff für die Polygeneration verwendet werden. Es besteht jedoch Forschungsbedarf, da Polygeneration-Kraftwerke bislang wenig erprobt und aufgrund ihrer Komplexität großtechnisch nicht eingesetzt werden. Die Erprobung von Schlüsseltechnologien wie der Polygeneration als Vorstufe zur Kommerzialisierung ist wesentliche Voraussetzung für die deutsche Kraftwerksindustrie, um im internationalen Wettbewerb weiterhin Spitzenpositionen einnehmen zu können.
Zum Weiterbetrieb von Tagebauen für eine stoffliche Nutzung von Braunkohle, insbesondere nach einem möglichen Ende der energetischen Nutzung, kann die Bundesregierung, unter anderem aufgrund des oben skizzierten weiteren Forschungsbedarfs, zurzeit noch keine Aussage vornehmen. Im Rahmen von Forschungsprojekten zur stofflichen Braunkohlenutzung ist der Betrieb bzw. Weiterbetrieb eines Tagebaus nicht relevant. Im Übrigen ist anzumerken, dass nach der im Grundgesetz festgelegten Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern ausschließlich das jeweilige Bundesland für die Genehmigung und Aufsicht von Vorhaben zur Aufsuchung und Gewinnung von Bodenschätzen zuständig ist.
2. Welche weiteren Projektvorschläge sind im Rahmen von COORETEC (bzw. des Fabiene-Projekts) innerhalb des 6. Energieforschungsprogramms „Forschung für eine umweltschonende, zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung“ der Bundesregierung eingegangen, und aus welchen konkreten Gründen hat sich die Bundesregierung für das RWE-AG-Projekt in Niederaußem entschieden?
3. Aus welchen Gründen ist die Bundesregierung der Meinung, dass das RWE-AG-Projekt in Niederaußem als „umweltschonendes“ Projekt im Rahmen des 6. Energieforschungsprogramms gilt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass Braunkohle zur klimaschädlichsten Energieerzeugungsform zählt und ganze Landstriche dafür abgebaggert werden müssen?
Die Fragen 2 und 3 werden zusammen beantwortet. Im Rahmen des 6. Energieforschungsprogramms der Bundesregierung (seit 2011) wurden bzw. werden in der Initiative COORETEC insgesamt 82 Forschungsprojekte zu Kraftwerkstechnologien gefördert. Das hierzu zählende BMWi-Förderprojekt „Fabiene“ wird an der TU Darmstadt (Fördermittel: 8,2 Mio. Euro), durchgeführt und nicht in Niederaußem. Weitere „Fabiene“-Projektpartner sind die RWE Power AG (Fördermittel: 170 000 Euro) und die ThyssenKrupp Industrial Solutions AG (Fördermittel: 820 000 Euro).
Die Differenz zu den in der Vorbemerkung der Fragesteller genannten Projektkosten von 10 Mio. Euro erklärt sich durch den Eigenanteil der Industriepartner.
Im BMWi-Förderprojekt „Fabiene“ an der TU Darmstadt wird als Forschungsziel ein Anlagenkonzept für die Polygeneration entwickelt. Polygeneration könnte eine strategische Option für das notwendige Lastmanagement beim weiteren Ausbau fluktuierender erneuerbarer Energien im Zuge der Energiewende sein. Zudem könnten bei einer Polygeneration auch Biomassen als Einsatzstoff verwendet und CO2 in den Kohlenstoffkreislauf zurückgeführt werden.
4. Hat die Bundesregierung in der Vergangenheit weitere Projekte zur stofflichen Nutzung der Braunkohle gefördert bzw. fördert sie aktuell weitere Projekte (bitte nach beendetem bzw. laufendem Projekt und Projektsumme aufschlüsseln)?
5. Welche Fördersummen hat die Bundesregierung in den vergangenen zehn Jahren für die stoffliche Nutzung der Braunkohle bewilligt (bitte nach Summe und einzelnen Projekten aufschlüsseln)?
Die Fragen 4 und 5 werden zusammen beantwortet.
Die stoffliche Nutzung der Braunkohle als Anwendungsgebiet der Kohlechemie ist kein prioritärer Förderschwerpunkt der Bundesregierung.
Im Bereich der Energieforschung wurden drei Förderprojekte an der TU Bergakademie Freiberg ermittelt, die sich mit dem inhomogenen Anwendungsgebiet einer energetisch-stoffliche Nutzung (Polygeneration) als Forschungsthema beschäftigen (Fördermittel: 204 000 Euro [beendet]/ 272 000 Euro [laufend]/ 4,9 Mio. Euro [laufend]).
Um die Transparenz staatlicher Förderpolitik weiter zu verbessern, wird die Bundesregierung mit „EnArgus“ (www.enargus.de) ein Internet-Portal bereitstellen, das über laufende und abgeschlossene Forschungsvorhaben rund um das Thema Energieforschung informiert.
6. Welche Mengen an Braunkohle wurden nach Informationen der Bundesregierung in den vergangenen zehn Jahren für die stoffliche Nutzung verwendet?
Derzeit werden jährlich 170 bis 180 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert und zu 10 Prozent stofflich zur Herstellung von Veredlungsprodukten genutzt.
7. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über die CO2-Bilanz der stofflichen Nutzung der Braunkohle vor?
Im Vergleich zu den aktuellen Rohstoffbasen Erdöl, Erdgas und nachwachsenden Stoffen sind die CO2-Emissionen bei einer stofflichen Nutzung der Kohle mindestens doppelt so hoch.
8. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Kosten und ökonomische Potenziale durch die Anwendung von stofflicher Nutzung der Braunkohle vor?
Die stoffliche Braunkohlenutzung ist durch die derzeit niedrigen Erdgas- und Erdölpreise sowie hohen Investitionskosten nicht wirtschaftlich. Durch die synergetische Infrastrukturnutzung bestehender Chemie- und Energiestandorte könnten mit kombinierter stofflicher und energetischer Braunkohleverwertung (Polygeneration) Energie (Bereithaltung energiewirtschaftlicher Kapazitäten) und Grundchemikalien flexibel erzeugt werden. Gleichzeitig produzierbare Energieträger wie Wasserstoff oder Methanol könnten bei Bedarf als Energiespeicher zur Verfügung stehen. Die Mitverwertung von Biomasse und Abfallstoffen reduziert CO2-Emissionen.
9. Welche Informationen liegen der Bundesregierung über Arbeitsplatzpotenziale durch die Anwendung von stofflicher Nutzung der Braunkohle vor, und auf welcher Basis beruhen diese Berechnungen?
Mit einer Polygeneration-Anlage könnten zusätzlich bis zu 300 Arbeitsplätze entstehen. Vor- und nachgelagerte Arbeitsplätze werden mit dem Faktor 2,1 induziert. Hierzu korrespondieren die negativen Arbeitsplatzeffekte in denjenigen Unternehmen und Sektoren, die die möglicherweise substituierten Grundstoffe für die chemische Industrie herstellen (Pardemann, Robert: Technische Universität Berakademie Freiberg (Hg.): Stoff-Kraft-Kopplung in kohlebasierten Polygenerationenkonzepten. 2013 / Buttermann, Hans Georg; Freund, Florian; Hillebrand, Elmar: EEFA – Energy Environment Forecast Analysis GmbH & Co. KG (Hg.): Bedeutung der rheinischen Braunkohle – sektorale und regionale Beschäftigungsund Produktionseffekte. 2010).
10. Welche Erfahrungen und Informationen liegen der Bundesregierung aus anderen Ländern über die stoffliche Nutzung von Braunkohle vor?
Weltweit ist die stoffliche Nutzung von Kohle (Kohleverflüssigung) beispielsweise in Ländern wie Südafrika, China oder auch Australien verbreitet. Die Verfahren der Kohleverflüssigung (Kraftstoffproduktion) sind aufgrund des Rohölpreises nicht wettbewerbsfähig.
11. Mit welchen Alternativrohstoffen steht die Braunkohle im Wettbewerb, und wie hoch sind die Produktionskosten jeweils?
Braunkohle steht für die chemische Industrie als Kohlenstoffquelle in Konkurrenz zu einer Rohstoffbasis aus Erdöl, Erdgas und nachwachsenden Rohstoffen. Bereits seit den 60er Jahren wurde die kohlebasierte Chemieproduktion in Deutschland durch preiswerteres Erdöl abgelöst. Grundsätzlich müsste die stoffliche Braunkohlenutzung gemeinsam mit Wasserstofferzeugung, CO2-Nutzung und erneuerbaren Energien sowie geopolitischen Aspekten betrachtet werden. Gegen- über dem weltweit derzeit besonders günstigem Rohöl könnte die heimische Braunkohle beispielsweise nur attraktiv sein, wenn ihre stoffliche Nutzung klimaverträglich durchführbar ist, das heißt wenn es gelingt, CO2 wieder in den Kohlenstoffkreislauf zurückzuführen (doppelter CO2-Footprint) und die dafür benötigte Energie aus erneuerbaren Quellen stammt. Neben den dazu vorauszusetzenden Investitionen in die Infrastruktur besteht weiterer Forschungsbedarf im Rahmen der Energieforschung.
12. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Fragesteller, dass die Verstromung der Braunkohle aus Klimaschutzgründen zurückgefahren werden muss (siehe dazu u. a. die Einführung einer Kohlereserve im Strommarktgesetz, um die CO2-Emissionen im Kraftwerkspark zu reduzieren) und deshalb eine stoffliche Nutzung der Braunkohle mit gleichen Emissionen nicht zukunftsträchtig ist, und wenn nein, warum nicht?
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um 80 bis 95 Prozent gegenüber 1990 zu verringern. Dabei soll der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung auf mindestens 80 Prozent steigen. Der Umbau der Stromversorgung hin zu erneuerbaren Energien wird den heutigen Strommix deutlich verändern. Die Bedeutung fossiler Energieträger – damit auch der Braunkohle – wird mit steigendem Anteil erneuerbarer Energien abnehmen. Technologien zur stofflichen Verwertung von Kohle haben sich bisher wegen fehlender Wirtschaftlichkeit nicht am Markt durchsetzen können.
Weitere Forschungen auf diesem Gebiet könnten gegebenenfalls neue Optionen für die Nutzung von Braunkohle eröffnen. Ausschlaggebend für ihre Anwendung ist die Wettbewerbsfähigkeit und ökologische Verträglichkeit solcher Technologien.
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