In meiner Rede zum Thema der europäischen Dienstleistungskarte – einem zugegebenermaßen etwas trockenen und komplexen Thema – habe ich die Position unserer Fraktion deutlich gemacht: Bei aller berechtigten materiellen Kritik am Vorschlag der Kommission kann es nicht angehen, dass die Debatte zum EU-Bashing verkommt. Denn die Dienstleistungsrichtlinie, welche die Grundlage für die Dienstleistungskarte legt, wurde auch gegen die Stimmen von uns Grünen im Bundestag angenommen – damals (2006/2007) hat die GroKo nicht infrage gestellt, dass die Europäische Kommission hier eine Kompetenz hat. Jetzt plötzlich wird jedoch behauptet, die europäische Ebene dürfe hier nicht aktiv werden.
Meine Rede finden Sie wie gewohnt hier im Video sowie unten im Volltext.
Annalena Baerbock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben ja jetzt zu später Stunde noch heftige Kost.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Seid ihr ja schuld!)
– Ja, zu Recht; das wollte ich gerade sagen. Es ist doch sehr wichtig, dass wir das hier diskutieren – Sie wollten das ja einfach so abstimmen lassen –; denn das Thema ist sehr komplex. Das Thema ist, weil es hochjuristisch ist, sicherlich keines, das die Herzen der Menschen erwärmen wird. Eher das Gegenteil ist der Fall. Wenn man falsch argumentiert, droht die Gefahr, dass es wieder zur Stimmungsmache gegen Europa taugt. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir uns differenziert mit der Kritik auseinandersetzen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Man muss hier zwischen materieller Kritik, dem, was man inhaltlich in den Richtlinien falsch findet, und der Subsidiaritätsfrage trennen. Frau Strothmann, das haben Sie hier aus meiner Sicht leider alles durcheinandergebracht; denn die Frage der Subsidiarität lautet: Hat die EU hier eine Kompetenz? Darf die EU hier rechtlich aktiv werden? Wir reden nicht darüber, wie viele Wochen man jetzt eine Prüffrist hat. Das kommt später im Verfahren. Jetzt ist die Frage: Hat die EU hier Gesetzgebungskompetenz? Das ist ein großer Unterschied. Gerade in Zeiten, in denen es in Europa so stürmisch zugeht, sollte man als Gesetzgeber diesen Unterschied immer berücksichtigen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich möchte noch einmal daran erinnern: Die Dienstleistungsfreiheit ist eine der vier Grundfreiheiten innerhalb der EU. Dienstleistungen machen heute zwei Drittel der Wirtschaftsleistungen der EU aus. Sie schaffen laut EU-Kommission etwa 90 Prozent der neuen Arbeitsplätze in unserem Binnenmarkt. Das heißt, es ist jetzt nicht irgend so ein Pipifax, über den wir hier reden. Es ist eine feste Säule unserer Europäischen Union . Zugleich – da bin ich auch bei der materiellen Kritik – erinnere ich mich sehr gut an die harten Diskussionen zur Dienstleistungsrichtlinie 2004 bis 2006. Ich war da nämlich zufälligerweise Mitarbeiterin im Europäischen Parlament, und ich habe ganz persönlich hart dafür gekämpft, dass das Herkunftslandprinzip aus der damaligen Dienstleistungsrichtlinie herauskam. Dafür haben einige gekämpft, Sie als Konservative bekanntermaßen leider nicht.
Nichtsdestotrotz: Diese Dienstleistungsrichtlinie wurde auch gegen die Stimmen von uns Grünen hier angenommen. Sie haben damals nicht infrage gestellt, dass die Europäische Kommission hier eine Kompetenz hat. Deswegen verwundert es mich schon, dass Sie jetzt plötzlich sagen, die europäische Ebene darf hier nicht aktiv werden;
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
denn die drei Richtlinienvorschläge, um die es hier geht, sind Verbesserungen der bestehenden Dienstleistungsrichtlinie. Ja, ich sehe in den drei Richtlinien massive Probleme, die Sie zum Teil auch angesprochen haben.
Es geht nicht, dass wir bei der Berufsreglementierung überhaupt keine Verhältnismäßigkeitsprüfung mehr haben. Es kann nicht sein, dass der EuGH plötzlich umgangen wird . Es kann auch nicht sein, dass die Systematik des Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 258 des EU-Vertrages plötzlich aufgekündigt wird. Das geht alles nicht.
Auch ich habe große Sorge, wie es die IG BAU formuliert, dass das Herkunftsprinzip durch die Hintertür eingeführt wird. Aber noch einmal: Bei der Subsidiaritätsrüge geht es um die Frage: Darf die Kommission hier tätig werden? Aus meiner Sicht darf sie das, rechtlich gesehen, erst einmal prinzipiell. Wir haben das in Artikel 56 des Lissabon-Vertrages, Dienstleistungsfreiheit, geregelt. Die EU-Kommission ist die Hüterin der Verträge, und als Hüterin der Verträge muss sie handeln, wenn etwas nicht korrekt läuft . Das macht sie eben mit diesen Vorschlägen.
Sie haben die Notifizierung angesprochen. Dieser Richtlinienvorschlag ist sicherlich der kritischste. Wir haben ihn uns ganz genau angeguckt. Wir sehen, dass die Rechtsgrundlage, die hier gewählt wurde – ich komme zum Schluss, Artikel 53 und Artikel 114, es nicht trifft. Aber das ist immer noch kein Grund für eine Subsidiaritätsrüge, sondern das wäre ein Verstoß gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung.
Lange Rede, kurzer Sinn: Materiell können diese Richtlinien nicht so bleiben, wie sie derzeit sind. Das müssen wir im Gesetzgebungsverfahren ändern, aber das dürfen wir nicht über das Instrument der Subsidiaritätsrüge machen, gerade in stürmischen Zeiten nicht; denn das hat Verhetzungspotenzial, was wirklich gefährlich wäre. Ich möchte noch einmal an das erinnern, was Sie gerade gesagt haben. Sie haben gesagt: Wir haben das noch nie gemacht . Jetzt wird es einmal Zeit, dass wir Deutschen auch dieses Instrument nutzen. – Das ist nun komplett die falsche Argumentation.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Das hat sie nicht!)
Deswegen bitte ich Sie: Lassen Sie uns das materiell prüfen, aber nicht mit falschen rechtlichen Instrumenten hantieren.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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